Gewaltige Schwingen
Manchmal gehen Wünsche eben doch in Erfüllung. Und dieser hat es wirklich in sich. Ein faszinierendes Vorbild, innovative Problemlösungen, dazu eine gehörige Portion Wagemut und noch viel mehr Herzblut. Und dabei immer nur ein Ziel vor Augen: Luftfahrtgeschichte wieder lebendig zu machen. Als unser Autor Andreas Kanonenberg erfuhr, was sein Freund Markus Frey sich als nächstes Projekt ausgesucht hatte, entschloss er sich, ihn auf der über zweijährigen Reise von der ersten CAD-Zeichnung bis zum Jungfernflug zu begleiten.
»Und was kommt als Nächstes?« Markus lächelt versonnen auf diese, meine letzte Frage. »Ideen gibt’s viele … Horten VI … Sea Fury … oh, und eine Rostov GT2 liegt auch noch angefangen im Keller … wir werden sehen.« »Also, wenn ich einen Wunsch frei hätte: eine Horten VI im Maßstab 1 : 2 … das wäre schon was …« Meine eigenen Worte sind das, nachzulesen am Ende meiner letzten Geschichte über Markus Frey, einem Modellbau-Magier aus Rottenschwil im Aargau in der Nähe von Zürich. Damals berichtete ich (siehe MFI 9 / 2019) über sein neues Modell, eine Pilatus SB-2 Pelican im Maßstab 1 : 2,8. Ein Traum von einem Modell: Einzigartig, groß und ausgestattet mit einem 420 ccm Fünfzylinder-Sternmotor von Valach. Jetzt, mehr als zwei Jahre später, gibt es Neuigkeiten: Das »Nächste« ist fertig! Als ich Anfang des Jahres 2020 die ersten CAD-Ansichten von Markus’ neuester Kreation auf seiner Facebook-Seite sah, machte mein Modellbauerherz einen Riesensprung: Es würde tatsächlich eine Horten VI werden, ein Nachbau des größten Seglers, den die Gebrüder Horten jemals gebaut und in die Luft gebracht haben. Nurflügler sind immer noch die hohe Schule, sie gelten als anspruchsvoll und sehr kapriziös. Flügel, die nicht enden wollen, dazu eine Streckung, die auch heute noch Respekt einflößt. Und kein langer Rumpf und Leitwerke, die von all dieser Schönheit nur ablenken würden. Und genau deswegen: Die Fluglage ist häufig nur sehr schwer zu erkennen. Kurzum: Eine Herausforderung, der Markus sich stellen wollte, denn die H VI wird so gut wie nie als Modell gebaut. Und dann noch in dieser Größe? Mehr zu Recherche und Konstruktion lesen Sie in der MFI 12/21
Der Bau
Januar 2020, Baubeginn
Und direkt an diesem ersten Tag postete Markus in seinem Facebook-Baubericht eine CAD-Ansicht von Rolf Fritschi, die mit nur diesem einen Bild alles ganz klar auf den Punkt brachte: Das Mittelstück (so nannten die Horten-Brüder die Rümpfe ihrer Segler) der Horten VI. Der Pilot, halb liegend mit angezogenen Knien, die Ellbogen gestützt auf den Hauptträger (doppelter Rohrholm in der Horten-Sprache) und den Kopf abgelegt auf einer Kinnstütze. Vorne unter dem Mittelstück eine gefederte und einziehbare Kufe aus Eschenholz, hinten ein ebenfalls einziehbares Landerad. Das Cockpit war eng: Zwischen den beiden ersten Rippen Steuerbord und Backbord war gerade mal 80 cm Platz, die Höhe an der höchsten Stelle betrug nur 50 cm. Und lediglich 40 cm auf beiden Seiten waren es von der ersten Rippe (und damit den Ellenbogen des Piloten) bis zur Wurzelrippe, wo die Tragflächen mit dem Mittelstück verbunden wurden. Der Pilot der H VI muss sich wie Ikarus gefühlt haben – so, als wären ihm die Flügel direkt aus den Schultern herausgewachsen. Natürlicher, einem Vogel gleich, kann Fliegen wohl nicht erlebt worden sein. Das würde die erste Baugruppe sein. Die Originale waren komplexe Maschinen; es dauerte bis zu 8.000 (!) Stunden, um ein Exemplar fertigzustellen. Ganz so viele sind es beim Modell nicht geworden, aber es waren sehr viele. Markus dokumentiert den Bau seiner Modelle sehr umfangreich, und so gibt es auch von seiner Horten viele hundert Fotos.
Der doppelte Rohrholm, das Herzstück der H VI, das alle Kräfte aufnimmt, wurde, um maximale
Festigkeit zu erzielen, aus Chrom-Molybdän-Stahlrohren gebaut. Sie haben einen Durchmesser von 32 mm mit einer Wandstärke von 0,8 mm. Markus ist von Beruf Schweißer, doch das war selbst ihm eine Nummer zu groß. »Das hat ein Profi für mich übernommen«, sagte er. »Alle anderen Rohre habe ich selbst mit Nickellot hartgelötet.« Die anderen Rohre waren die großen Querstreben (20 x 0,6 mm), für den Rest kamen Rohre von 8 bis 20 mm Durchmesser und dünnerer Wandung zum Einsatz.
Ende Oktober war der Rohbau des Mittelstücks abgeschlossen. 11,8 kg Gewicht für alle Metallteile, postete Markus im Baubericht. Das voraussichtliche Endgewicht für das komplette Mittelteil veranschlagte er mit rund 25 kg. Moment mal … irgendwas passte da nicht so recht zusammen. Und dann dämmerte es mir. Im Maßstab 1 : 2, und davon war ich (und der Rest der Facebook-Gemeinde, die dem Baubericht folgte) ausgegangen (auch wenn Markus es nie explizit gesagt hatte), müsste das Fluggewicht bei etwa 40 kg liegen. Aber wie sollte das zu schaffen sein? Die mehr als 11 Meter Flügel, die noch zu bauen waren, sollten nur 15 kg auf die Waage bringen? Und das in Sperrholz und voll beplankt? Hm …
Ich ging nochmal durch den gesamten Baubericht, und siehe da: Es hatte schon so einige Fragen nach der Größe des Modells gegeben; Fragen, die Markus nie so ganz eindeutig beantwortet hatte. Und nur auf Fotos ist es fast unmöglich, die wirkliche Größe von etwas zu bestimmen. Außerdem: Man glaubt, was man glauben soll. Ich musste das jetzt wissen, und rief ihn an. »Wie groß ist die Horten wirklich?« Pause. Markus fing an zu lachen. »Du bist mir auf die Schliche gekommen. Kannst du ein Geheimnis bewahren?« Na logisch. »Es wissen nur die Leute, die von Anfang an involviert waren.« »Okay, wie groß?«, fragte ich ganz zappelig. Und voller Vorfreude. »1 : 1,5«, antwortete er. Echt jetzt? Ich spielte das kurz in meinen Kopf durch.
»Das wären ja …« »16,17 Meter Spannweite«, sagte Markus. Ich war begeistert. Wie er denn darauf gekommen sei? Er habe sich noch einmal richtig herausfordern wollen mit seinem letzten großen, zulassungspflichtigen Modell. Und nebenbei auch noch die Größe seiner Austria von 2009 toppen wollen. Eine schöne Idee. Und natürlich versprach ich, meine Klappe zu halten. Das würde eine (im wahrsten Sinne des Wortes!) große Überraschung werden. Und eine tolle Geschichte innerhalb der Geschichte, die anderen genauso viel Spaß machen würde wie ihm. Und jetzt auch mir.
Weiter ging’s mit dem Bau des Mittelstücks. Als nächstes entstanden die Rumpfabdeckung und der »Radkasten« (beide in GfK / CfK-Gemischtbauweise). Im Original bestand der Deckel aus Aluminium, also wurde der Nachbau mit selbstklebender Alufolie (0,1 mm) überzogen. Auch die Kabinenhaube war mittlerweile fertig. Jetzt ging es Schlag auf Schlag: Das Mittelstück wurde sandgestrahlt und danach mit einer grauen Pulverbeschichtung versehen. Und was vorher sehr beeindruckend war, hatte sich nun in eine Skulptur, ein wahres Kunstwerk, verwandelt.